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Rede bei der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft

Dr. Carsten Dethelefs - Rede bei der vbg in Hamburg am 18.06.2018, Foto: privat

Dr. Carsten Dethelefs – Rede bei der vbg in Hamburg am 18.06.2018, Foto: privat

Vorstellung

Mein Name ist Carsten Dethlefs. Ich bin promovierter Wirtschaftswissenschaftler, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Roman- und Sachbuchautor, Lehrbeauftragter an der FH-Westküste und seit meinem vierten Lebensjahr vollständig erblindet. Mir ist diese Reihenfolge bei meiner Vorstellung durchaus wichtig, weil Inklusion für mich erst dann vollständig erreicht ist, wenn das eigene Handicap zur Nebensache wird.

Das Wort „Inklusion“ leitet sich von dem lateinischen „inclusio“ ab und bedeutet so viel wie „Einbezug“, „Einschluss“. Darum geht es ja auch schließlich. Man will Menschen, die von der Norm abweichen – wie vor allem Menschen mit Behinderung – in die Gesellschaft einbeziehen. Es geht nicht darum, Menschen, die anders sind, einem vorgegebenen Ideal anzupassen, sondern darum, die Vielfalt zuzulassen und – das füge ich selbst hinzu – die Vielfalt so zu organisieren, dass daraus eine Stärke erwächst. Inklusion ist nämlich auch etwas Anderes als Anarchie.

Inklusion gestern und heute

Ich bin, wie gesagt, seit meinem vierten Lebensjahr vollständig erblindet und musste somit 1987, als es darum ging, der Schulpflicht nachzukommen, auch eingeschult werden. Damals war der Gedanke noch recht neu, dass blinde Menschen ganz normal mit nicht behinderten Kindern die Grundschule besuchen konnten. Behilflich sollte dabei in meinem Fall die staatliche Schule für Sehgeschädigte aus Schleswig sein. Von dort wurde eine Sonderschulpädagogin abgeordnet, die mich im Unterricht begleiten sollte. Ihre Aufgabe war es auch, mich die Blindenschrift zu lehren. Problem dabei war, dass sie diese selbst nicht beherrschte. Da war guter Rat teuer. Mein damaliger Klassenlehrer bot sich daraufhin an, selbst diese Schrift zu erlernen und sie mir dann beizubringen. Man kann somit sagen, dass die Inklusion, die ich damals erlebte, eine durchaus menschliche Komponente hatte. Dieser Lehrer hätte es nicht tun müssen. Man hätte genausogut sagen können, die Beschulung ist bei uns nicht möglich, jetzt muss er nach Hamburg auf das Internat gehen.

Später folgte auf diese Pädagogin, die die Blindenschrift nicht beherrschte, ein sehr viel fähigerer Vertreter aus Schleswig, und somit konnte ich das Gymnasium ebenfalls inklusiv, oder wie man damals sagte, integrativ besuchen und im Jahr 2000 mit dem Abitur abschließen.

Im Anschluss fiel für mich der Wehr- und Zivildienst aus. Bei der Bundesweher traute man mir nicht zu, bei Manövern gut mit der Waffe zu zielen, beim Zivildienst bot man mir eher Hilfe an, als von mir Hilfe zu verlangen.

So konnte ich im Jahr 2000 mein Studium der Betriebswirtschaft an der FH-Westküste aufnehmen. Dieses Studium der Betriebswirtschaftslehre verlief ohne Komplikationen. Ich hatte stets einen Laptop in der Vorlesung dabei, schrieb fleißig mit und bekam die Skripts durch die Dozenten digital überreicht. Prüfungen absolvierte ich überwiegend mündlich.

Die Probleme tauchten dann nach dem Studium auf. Kein Arbeitgeber konnte oder wollte sich so recht vorstellen, wie man, ohne sehen zu können, produktiv für ein Unternehmen arbeitet. Ich beendete mein Studium Ende 2004. Ende 2006 durfte ich dann zumindest schon einmal Lotterielose am Telefon verkaufen. Vorher hatte ich bereits ein Fernstudium aufgenommen, um mein Wissen nicht veralten zu lassen und meine Vita zumindest einigermaßen aktuell zu halten. Mitte 2007 ergab es sich dann, dass ich an der FH Kiel als nicht-wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für barrierefreie Informationstechnologie für 18 Monate arbeiten durfte. Dort befasste man sich damit, Internetseiten auf ihre Barrierefreiheit hin zu überprüfen. Natürlich war es das Geschäftsmodell, möglichst viele Internetseiten als nicht barrierefrei zu identifizieren, damit man sie neu programmieren konnte. Allerdings kam ich mit den meisten Seiten zurecht. Hier verstand ich erstmals, dass den wenigsten Akteuren an einem positiven Bild blinder und auch anders behinderter Menschen in der Öffentlichkeit gelegen ist. Man versucht eher, öffentliches Mitleid zu erzeugen. Leistung ist hingegen nicht gefragt. Wenn Inklusion stattfinden soll, dann steckte – so verstand ich – meistens der Staat dahinter, der legislative Formelkompromisse produziert. Dazu später mehr

Inklusion und Verbandswesen

Diese Tendenz wird auch und insbesondere durch einige Verbände im Behindertenwesen verstärkt. Verbände sind wichtige Mittler zwischen Individuen und der Politik. Wenn sie aber versuchen, ihre Interessen durchzusetzen, indem sie meinen, für alle sprechen zu können – ob Mitglied oder nicht – werden sie gerade im Behindertenwesen schnell zu Zwangsgemeinschaften. Eine Behinderung kann man nicht ablegen wie die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder anderen Verbänden. Man sieht die Behinderung. Die Mitgliedschaft in bestimmten Verbänden kann man rein optisch nicht erkennen. Darum wird man in der Regel für Verlautbarungen von Verbänden in Mithaftung genommen, selbst wenn man sie nicht unterstützt. Ein Beispiel, das den Zwangscharakter deutlich macht, ist der besondere Kündigungsschutz, dem Menschen mit Behinderung unterliegen. Sie können auf diesen nicht selbst und freiwillig verzichten. Ansonsten würde dieser Schutz auch für alle anderen nicht mehr gelten. Juristisch spricht man hier von einer „positiven Diskriminierung“. Ich musste diese Wahrheit erfahren, als ich selbst nach meiner Promotion keine Arbeit außerhalb des Behindertensektors fand, obwohl ich doch nun wahrlich schon alles bewiesen hatte, was man beweisen konnte. Eine zweijährige Probezeit, der man im Tausch gegen den besonderen Kündigungsschutz unterliegt, nimmt zudem jede  Planungssicherheit.   Genauso wie den besonderen Kündigungsschutz müssen wir uns bewusst machen, dass Verbände sich natürlich nicht selbst überflüssig machen wollen und daher starke und unabhängige Individuen scheuen.

UN-Behindertenrechtskonvention

Die UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland im Jahr 2009 ratifizierte, hat nun die Sicht auf das Thema „Behinderung“ grundlegend geändert. Hiernach ist man nicht mehr behindert, sondern wird von unterschiedlichen Barrieren im Alltag an der Teilhabe auf vielen Gebieten gehindert. Somit steigt die Zahl der Menschen mit Behinderung in Deutschland von ca. 8 Millionen auf maximal 82 Millionen.

Themen wie die gesellschaftliche und politische Teilhabe werden hier ganz klar angesprochen, aber auch die Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft gegenüber dem Konstrukt „Behinderung“. Viele Dinge, die eigentlich selbstverständlich sein sollten, erhalten hier einen einklagbaren Rechtscharakter.

Wie weit die Inklusion allerdings trägt, wenn gleichzeitig auf den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern Filme wie „24 Wochen“ laufen, weiß ich nicht, ob sie jemals verwirklicht wird. In diesem Film geht es um die Konfliktsituation einer Frau, die weiß, dass sie ein Kind mit Trisomie 21 zur Welt bringen wird und sich schließlich für einen Spätabbruch entscheidet. Das Fazit des Films lautet dann, dass dieser Abbruch wohl nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch war. Was soll man als Betroffener jetzt denken?

Die wichtigsten Dimensionen der Inklusion – Wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Teilhabe

Die gesellschaftliche Teilhabe hat beispielsweise damit zu tun, dass man mit einer Einschränkung problemlos und selbstständig durch die Innenstadt gelangen kann, um den eigenen Bedürfnissen nachzugehen. Unterschiedliche Anwälte haben sich auf diese Dimensionen spezialisiert. Über die wirtschaftliche Teilhabe habe ich vorhin bereits ansatzweise gesprochen. Die Möglichkeit, für seinen eigenen Lebensunterhalt selbst sorgen zu können, sich selbst emporzuarbeiten und für die eigene Familie zu sorgen, muss für Menschen mit Behinderung ebenso gegeben sein wie für Menschen ohne Behinderung, die es ja laut UN-Behindertenrechtskonvention ohnehin kaum noch geben dürfte.

Auch die politische Teilhabe ist ein wichtiges Element Sowohl als aktive und erst recht als passive Wahlbürger unterliegt man hier mannigfachen Einschränkungen. Für mich steht allerdings fest, dass es in einer freiheitlichen Demokratie wie der unseren keine Staatsbürger erster und zweiter Klasse geben darf. Stellen wir uns vor, man möchte sich vor einer Wahl über die unterschiedlichen Programme einzelner Parteien informieren, und diese liegen nicht in barrierefreier Form (Gebärdensprachvideo, Blindenschrift oder in anderen barrierefreien Formaten im Internet) vor. Gleiches gilt für Zeitungen. Dann stellt sich das Problem, wie man bspw. mit einem Elektrorollstuhl in die Wahlkabine kommt oder als blinder Mensch mit dem Stimmzettel hantiert. Natürlich kann man Briefwahl beantragen und in den eigenen vier Wänden eine Hilfsperson hinzuziehen, aber will man nicht sichergehen, dass der eigene Stimmzettel auch tatsächlich dort landet, wo man ihn haben will? Der deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband hat deshalb Wahlschablonen entwickelt, die helfen sollen, sich auf dem Stimmzettel zurechtzufinden. Da ich aus meiner Wahlentscheidung aber nie ein Geheimnis gemacht habe, gehe ich stets mit einer Person meines Vertrauens zur Stimmabgabe.

Noch schwieriger gestaltet sich die Frage, wie man als Mensch mit Behinderung selbst kandidiert. Wie kommt man als Rollstuhlfahrer in verwinkelte Gasthäuser, in denen Wahlversammlungen abgehalten werden? Wie kommuniziert man seine eigene Botschaft am schlagkräftigsten? Wie verdeutlicht man, dass andere Menschen einem Menschen mit Behinderung das Vertrauen schenken sollen?

Ich habe mich kürzlich bei der Kommunalwahl in Schleswig-Holstein für die CDU in Heide aufstellen lassen und konnte meinen Wahlkreis mit vier Stimmen Vorsprung vor einem alt eingesessenen Kandidaten gewinnen. Mit Hilfe der sozialen Medien, mit Hilfe meiner Parteikollegen, der Jungen Union und dem Interesse des Fernsehens an meinem Fall konnte ich es schaffen.

Interesse ist ohnehin ein gutes Stichwort. Das gemeinsame Interesse zu wecken, ist bei der Verwirklichung der Inklusion eine wichtige, ja unerlässliche Aufgabe. So habe ich das Konzept „Barrierefreiheit als Wettbewerbsvorteil“ entwickelt. In einer immer älter werdenden Gesellschaft ist es für die Wirtschaft unerlässlich, die zehn Prozent der Bevölkerung mit special needs als Kunden anzusprechen. Hier geht es quer durch den Marketingmix. Die Kommunikation ist gerade für sinneseingeschränkte Personen so zu modifizieren, dass die Markenbotschaft ankommt. Das Produkt kann mit wenig Aufwand handhabbarer für Menschen mit Behinderung gemacht werden. Apple und Tesla machen es vor. Das IPhone verfügt über eine sehr brauchbare Sprachsteuerung, Tesla wird es künftig auch motorisch und visuell eingeschränkten Personen ermöglichen, mit einem Kfz dorthin zu gelangen, wo man hin möchte. Die Distribution kann so erfolgen, dass weder Menschen im Rollstuhl noch Frauen mit Kinderwagen in überfüllte Supermärkte gehen müssen. Die Preise können so ausgestaltet werden, dass Begleitpersonen vergünstigt oder sogar kostenlos mitreisen können. Die deutsche Bahn macht es vor. Diese und noch andere Dinge lehre ich wieder im Wintersemester an der FH Westküste im Fach „Menschen mit Behinderung als Zielgruppe – Barrierefreiheit als Wettbewerbsvorteil“ Nach meiner Einschätzung ist Inklusion kein rein politisches Thema, sondern eines für der Zukunft zugewandten Unternehmer. Ich möchte mich auch nicht in Floskeln wie „Ich habe einen Traum“ ergehen. Hinsichtlich der Inklusion wurde schon lange genug geträumt. Jetzt ist endlich die „Zeit des Handelns“ – und ich möchte hinzusetzen – die „Zeit des Handelns und des Handels“ gekommen. Inklusion lässt nicht notwendigerweise Kosten entstehen, sondern vermeidet Kosten, kann sogar Gewinn erzielen. Diese kapitalistisch und hart klingende Botschaft laut auszusprechen, traut sich bislang aber kaum jemand.

Nun ist natürlich klar, dass Menschen immer mehr sind als reine Wirtschaftsobjekte, sie sind aber eben auch immer mehr als reine Sozialprojekte.

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