Gut, wenn man noch träumen kann

Martina Ermisch ist eine Frau, die noch Träume hat, und das ist auch gut so. Nur träumen allein macht nicht glücklich. Gehen wir doch auch daran, die Träume zu verwirklichen.

Wie ihr Traum aussieht, lesen Sie hier:


 

„I have a dream!“ – Mit diesen Worten begann vor über 50 Jahren Martin Luther King´s wohl bekannteste Rede. Gleichsam, wie er damals die Hoffnung äußerte, dass eines Tages der Mensch nicht mehr nach seiner Hautfarbe und Herkunft beurteilt wird, leben heute alleine in Deutschland etwa 7 Millionen Menschen mit sichtbarer und unsichtbarer Behinderung und ihre Angehörigen mit der Hoffnung, bedingungslos Teil der Gesellschaft zu sein. Ich bin einer davon. Und auch ich habe den Traum, dass Begriffe, wie „Integration“ oder „Inklusion“ nicht mehr für etwas Sensationelles, Großes stehen. Vielmehr träume ich davon, dass wir eines Tages so selbstverständlich unserer Gesellschaft angehören, dass diese Begriffe überflüssig sind. Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg. Was 2008 mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention vielversprechend begann, wirkt heute, acht Jahre später, am ehesten wie ein Sturm im Wasserglas, der sich mit Berichten über im Einzelfall gelingende Inklusionsmaßnahmen gut medienwirksam verkaufen lässt. Wirklich geändert hat sich jedoch so gut wie nichts. Bauliche Barrierefreiheit ist zwar inzwischen bei öffentlichen Gebäuden gesetzlich vorgeschrieben, im schulischen Bereich und in der Freizeit jedoch noch oft reine Glückssache.

Und wie sieht es mit den Barrieren in den Köpfen meiner Mitmenschen aus?! Gerade hier sehe  ich das viel größere Problem. Wie soll Inklusion funktionieren, wenn Behinderung nach wie vor nur als grausame Schicksalsfügung dargestellt wird und nicht als Lebensumstand, mit dem man in der Regel zwar anders als die breite Masse, aber dennoch glücklich leben kann? Wie soll Inklusion funktionieren, wenn Kinder mit Behinderung in Medienberichten über Inklusion immer als die Schwachen dargestellt werden, denen man helfen muss? Ja, wir haben in Teilbereichen unsere Schwächen, aber wir haben, wie jeder andere auch, unsere Stärken! Und genau die sollten herausgestellt werden! Inklusion, die nur darin besteht, dass man jemanden im Rollstuhl schiebt, einem Kind mit Down-Syndrom bei den Schulaufgaben hilft oder einem Blinden ein Buch vorliest, ist keine Inklusion. Inklusion setzt per definitionem  voraus, dass Menschen in ihrer Verschiedenheit im Rahmen ihrer Möglichkeiten gleichberechtigt zusammen im Alltag agieren. Und davon sind wir erschreckend weit weg. Abwegig erscheint auch die Vorstellung, dass Kinder mit schwerer Mehrfachbehinderung ein glückliches Leben führen können und keineswegs nur bemitleidenswerte Kreaturen sind. In meiner beruflichen Praxis führte dies dazu, dass eine Grundschullehrerin mir für ein Kooperationsprojekt eine Absage erteilte, nachdem sie meine Klasse kennen gelernt hatte und feststellte, dass es dort eben auch Kinder mit schweren Mehrfachbehinderungen gibt. Diesen Umstand empfand sie für ihre Schüler als unzumutbar?!  Offenbar war ihr vorher nicht klar, dass Behinderung sich nicht nur auf gestriegelte und geschniegelte blitzgescheite Rollikinder beschränkt.

In Bezug auf inklusive Beschulung wird auch viel darüber diskutiert, inwiefern das Leistungsniveau einer Schulklasse durch den gemeinsamen Unterricht mit Kindern mit Behinderung leidet. Die Studie der Bertelsmann-Stiftung liefert dazu zwar kein eindeutiges Ergebnis, aber immerhin einen Positiv-Trend. Demnach konnten inklusiv arbeitende Schulen vor allem mit einem lernförderlichen Klima punkten. Widersprüchlich dazu erscheint die Aussage, dass etwa die Hälfte der Eltern inklusiv beschulter Kinder ohne Handicap den Eindruck hatten, ihre Kinder werden durch die Klassenkameraden mit Handicap in ihrem Lernfortschritt gebremst. Hierzu gibt es im Übrigen ein relativ breit gefächertes Angebot an Studien, das diese Befürchtung klar widerlegt. (Feyerer 1998; Preuss-Lausitz 2009; Wocken 1999; oder auch: Bless/Klaghofer 1991) Trotzdem hält sich dieses Vorurteil offenbar bis heute sehr hartnäckig. Ein Artikel in der Augsburger Allgemeinen vom 22. April 2016 bestätigte mir dies. Es wurde über die Zusammenarbeit mit zwei Klassen einer ortsansässigen Förderschule mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische  Entwicklung berichtet, die sich seit einigen Jahren unter dem Dach der Grundschule befinden. Von einer Pausensituation ohne Berührungsängste und gemeinsamen Projekten in den musischen Fächern, von denen beide Seiten offenbar profitieren, war hier die Rede. Insgesamt las sich der Artikel sehr gut, bis zu dem folgenschweren Absatz:

„Manche Eltern von Viertklässlern der Regelschule meinen, dass ihre Kinder nicht ausreichend auf den Übertritt an weiterführende Schulen vorbereitet werden. Das stößt bei allen Lehrkräften auf Verständnis. Deshalb ist es selbstverständlich, wenn Viertklässler in dieser fordernden Zeit weniger an gemeinsamen Projekten beteiligt sind.“

Wieso gibt man diesen Eltern so freimütig Recht, anstatt sie davon zu überzeugen, dass erstens trotzdem noch genügend Zeit für den Lehrstoff bleibt und es zweitens ebenso wichtig ist, soziale Fähigkeiten auszubilden. Zumal die Studienlage sich ganz klar für eine inklusive Beschulung ausspricht und das Bayerische Erziehungs- und Unterrichtsgesetz dafür ebenfalls eine Rechtfertigung bietet.

Es hakt hier, so mein persönlicher Eindruck, an vielen Stellen. Um Inklusionskonzepte sinnvoll und erfolgreich durchführen zu können, müssen erst grundlegende gesellschaftliche Fragestellungen geklärt werden:

– Wie gehe ich mit Andersartigkeit in meinem Umfeld um?

In unserer Gesellschaft gibt es viele Randgruppen, die es gesellschaftlich einzugliedern und zu akzeptieren gilt. Das betrifft den Menschen mit Handicap genauso wie den Nachbarn mit Migrationshintergrund, den Hartz-IV-Empfänger oder die gefühlt quälend langsam arbeitende Mitarbeiterin an der Supermarkt-Kasse. Klar sind auch sie irgendwie „anders“. Trotzdem haben sie ein Recht darauf, gleichwertig behandelt zu werden. Als Maxime menschlichen Handelns kann und muss nach wie vor Kants kategorischer Imperativ gelten – besser bekannt als goldene Regel  „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu.“

– Wie rede ich über Andersartigkeit?

Gerade in Bezug auf Menschen mit Behinderung erlebe ich ein enormes gesellschaftliches Bestreben, sich möglichst politisch korrekt zu verhalten und darüber zu reden. Aus Angst, diese zu stigmatisieren, werden Formulierungen gewählt, die bestehende Beeinträchtigungen entweder komplett ausklammern oder aber so verschlüsseln, dass nicht mehr klar wird, was gemeint ist. Die Bezeichnungen für die verschiedenen Förderschularten sind nur ein Beispiel von vielen. Man kann, darf und muss die Dinge beim Namen nennen, ohne sich dabei in politischer Korrektheit zu verrennen. Solange man den Menschen nicht auf sein besonderes Merkmal reduziert, kann es eigentlich kaum passieren, dass man ihn damit beleidigt oder gar stigmatisiert.

– Wie denke ich über den Umstand der Andersartigkeit?

Schaut man der Tatsache ins Auge, dass die meisten Beeinträchtigungen erst im Laufe des Lebens entstehen, kann man es eigentlich nicht mehr als selbstverständlich ansehen, dass man bisher unversehrt durchs Leben gekommen ist. Insofern erscheint es naheliegend, dass man Behinderungen als Normvariante des menschlichen Lebens betrachtet – auch die, die vor, während oder unmittelbar nach der Geburt entstehen.

– Was traue ich einem Menschen mit Behinderung zu? Sehe ich ihn nur als hilfsbedürftigen Menschen an, der kaum für seine Belange eintreten kann, oder gestehe ich ihm ein individuelles Maß an Selbstbestimmung zu? Ist das Bild eines Rollstuhlfahrers in einer Führungsposition oder der Schauspieler mit Down-Syndrom  so abwegig? Und wer hat behauptet, dass man Büroarbeiten nur dann erledigen kann, wenn man perfekt am PC schreiben und mit der eigenen Stimme kommunizieren kann?

 

Ich denke, wir müssen uns alle von gewissen Normansprüchen verabschieden. Kein Mensch kann alles! Und auch eine immer effektiver arbeitende und sich stetig selbstoptimierende Gesellschaft hat ihre Grenzen. Der eine früher, der andere später. Das ist normal! Nicht normal ist, dass die, die ihre Grenzen relativ früh erreichen, aufs Abstellgleis gestellt werden und oft ein Leben führen, in dem sie ihr Potential nicht ausschöpfen dürfen, weil es irgendwelchen Normen nicht gerecht wird.

Wir sind diejenigen, die auf die anderen zugehen und unsere Bedürfnisse kommunizieren müssen. Das ist mitunter nicht nur anstrengend, sondern höchst nervenaufreibend und frustrierend, weil sie sich nur sehr langsam durchsetzen. Umso wichtiger ist es, dass man sich mit Gleichgesinnten verbündet und gemeinsam kämpft. Martin Luther King hätte alleine wohl kaum eine Chance im Kampf um die Aufhebung der Gesetze zur Rassentrennung gehabt, aber sein Einsatz hat eine ganze Menschenrechtsbewegung in Gang gesetzt, die genau das erreicht hat. Wünschenswert ist, dass wir ASBH-Mitglieder eine ähnliche Energie entwickeln und gemeinsam für unsere Rechte einstehen, denn es gibt viel zu tun, also packen wir es an! Es muss normal werden, anders zu sein!

 

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