Aus der Not eine Tugend machen – Krise als Pool für neues Denken nutzen

Steuererhöhungen zur Sanierung der wegen Zahlungsausfällen defizitärer Haushalte oder eine Expansion der Fiskalpolitik als Wachstumsimpuls allein bergen schließlich die Gefahr einer Finanz- und Wirtschaftskrise in sich. Im Falle von Steuererhöhungen könnte der Konsum geschwächt, im Falle von einer höheren Neuverschuldung nach keynesianistischem Vorbild eine Währungskrise heraufbeschworen werden.

Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, vielmehr neue gesellschaftliche Potentiale zu heben, die eine zusätzliche Nachfrage schaffen. Ich stelle in diesem Beitrag auf Menschen mit Behinderung ab.

Nach der Definition des SGB IX gibt es in Deutschland ca. acht Millionen Menschen mit einer Behinderung. Diese Gruppe umfasst somit etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Folgende Merkmale werden ihnen nach § 2 Absatz 1 im Sozialgesetzbuch IX zugeschrieben:

„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.“

Die UN-Behindertenrechtskonvention geht sogar noch weiter und sieht jedermann in bestimmten Situationen hin und wieder in der Rolle eines Behinderten. Somit würde die Zahl dieser Klientel auf deutschlandweit etwa achtzig Millionen steigen.

All diesen Definitionen ist jedoch gemein, dass die Teilhabe und somit auch die Teilhabe am Konsum im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung eingeschränkt ist.

Der problemlose Gang ins Geschäft, das spontane Bestellen im Internet, das sich unterbewusst Inspirieren-Lassen durch Werbung, der schweifende Blick in die innerstädtischen Schaufenster – all das bleibt Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen vorenthalten. Die Idee, wofür man darum das eigene Geld ausgeben sollte, entsteht im Bewusstsein dieser Gruppe somit erst gar nicht oder kann wegen physischer Barrieren wie Treppen nicht in die Tat umgesetzt werden.

Was ist darum zu tun, um dieses Potential zu heben?

Es gibt im Wesentlichen zwei Merkmale, die Menschen mit Behinderung als Konsumenten in ihrer Wirkung hinter Menschen ohne Behinderung zurückfallen lassen. Hierbei handelt es sich zum einen um die nicht überall gegebene Barrierefreiheit (siehe oben) und zum anderen um die geringere, durch höhere Arbeitslosigkeit bedingte Kaufkraft. Die Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe ist – von gelegentlichen Schwankungen einmal abgesehen – in der Regel doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung.

Die Barrierefreiheit definiert sich in diesem Kontext als die „Auffindbarkeit, Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der gestalteten Lebensbereiche“. Das bedeutet: Die Menschen mit Behinderung müssen zunächst einmal die Auswahl erkennen, die ihnen als Konsument offensteht. Barrierefreie Werbeformate können hierbei behilflich sein. Der Verfasser dieses Beitrags schlägt somit in seinem 2018 erschienenen Buch „Freie Auswahl für alle“ folgende Merkmale für barrierefreie Werbespots in multisensualen Medien vor:

Voraussetzungen für barrierefreie Werbung

  • Frühes Branding im Spot, um Kontext zum Produkt herzustellen
  • Klare und deutliche Sprache
  • Einbettung in nachvollziehbare Geschichte
  • Emotionalisierende Klänge/Melodien, verbale Botschaften
  • Komplexe Sachverhalte untertiteln
  • Möglicherweise zweiter Kanal, um Gebärdensprache oder Audiodeskription hinzuzuschalten
  • Markante Jingles zur Konditionierung
  • Ruhige und überschaubare Atmosphäre in der Handlung, um möglichst viele Eindrücke aufnehmen zu können
  • Überschaubare Länge, um Aktivierung hochhalten zu können.

Zudem müssen die Stätten des Konsums für dieses Klientel zugänglich sein, sprich mit Rollstuhl oder anderen Hilfsmitteln erreicht werden können. Das alleinige Vorhandensein von Treppen würde diesen Zugang erschweren, ebenso wie Fahrstühle, bei denen die Tasten nicht mit Blindenschrift ausgezeichnet sind und es keine akustischen Stockwerksansagen gibt. Natürlich bedeuten diese Maßnahmen häufig einmalige Investitionen von Seiten der Unternehmer. Diese werden aber in der Regel auch aus entsprechenden Budgets auf Landes- und Bundesebene bezuschusst.

Ein barrierefreier Internetauftritt, der hilfsmittelkompatibel ist, hat eine ähnlich große Bedeutung. Hier geht es nach der barrierefreien Informationstechnologie-Verordnung (BITV 2.0), um Dinge wie hilfsmittelkonforme Bildunterschriften, barrierefreie PDFs oder kurze Ladezeiten von Websites.

Wenn die physischen und digitalen Barrieren behoben sind, hängt der Konsum noch maßgeblich vom Einkommen der Gruppenmitglieder ab. Das Einkommen der Menschen mit Behinderung wird maßgeblich durch die vergleichsweise hohe Arbeitslosigkeit negativ beeinflusst.

Die höhere Arbeitslosigkeit ist zum einen durch die mangelnde Aufklärungsbereitschaft über für den Arbeitsplatz erforderliche Hilfsmittel und deren Finanzierung durch die Selbsthilfeorgane gegeben wie es die Theorie des kollektiven Handelns nach Mancur Olson nahelegt (vgl. Olson 1965/2004; oder der Artikel in der Welt Online: „Man kann doch mehr als nur blind zu sein“).  Hiernach besteht der Verdacht, dass sich die Verbände auf diesem Gebiet nicht durch konstruktive Problemlösungen selbst überflüssig machen. Ein stattlicher Pool an Problemen sichert somit deren Existenz…

Des Weiteren spielt der besondere Kündigungsschutz für Menschen mit Behinderung in den Köpfen vieler Arbeitgeber eine entscheidende Rolle. Diese in den §§ 68 bis 75 des SGB IX formulierte Vorschrift besagt im Wesentlichen, dass kein Mitarbeiter mit Behinderung ohne Zustimmung des Integrationsamtes entlassen werden darf. Der Mitarbeiter kann nicht wirksam auf diesen Kündigungsschutz verzichten. Einerseits klingt es verständlich, dass das Integrationsamt ein Mitspracherecht über die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung haben möchte, wenn selbige Behörde Zuschüsse zu den Hilfsmitteln leistet. Andererseits verwundert es doch sehr, dass man als Betroffener nicht über die Konditionen entscheiden kann, zu denen man die eigene Arbeitskraft anbietet. So münden Beschäftigungsverhältnisse oftmals in befristeten Verträgen oder Beschäftigungsverhältnissen in den Selbsthilfeorganen. Bei Letzteren ist die Zahl der Arbeitsplätze aber natürlich begrenzt. Somit entsteht ein statisches Sozialgefüge mit einer hohen sozialen Unsicherheit.

Lösungsansätze

Um die Beschäftigungssituation von Menschen mit Behinderung zu verbessern, sollte die Aufklärung über die technischen Möglichkeiten dieser Gruppe samt der dazugehörigen Kostenträger Bestandteil der universitären Lehre im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft werden. Arbeitgeber sollten zudem vor die Wahl gestellt werden, ob sie lieber einen Zuschuss für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung und entsprechende Kostenübernahme von Hilfsmitteln erhalten wollen oder auf den besonderen Kündigungsschutz verzichten möchten. Im Fall der Bezuschussung sollte der Kündigungsschutz gelten, im Falle des Verzichts kann dieser entfallen. Die Menschen mit Behinderung, die ihre Arbeitskraft anbieten, können sich dann entscheiden, bei welchen Unternehmen sie tätig werden möchten. Diese Schritte der Bewusstseinsbildung und der Positionierung von Menschen mit Behinderung als produktive Arbeitskräfte sollte die Beschäftigungssituation entspannen und eine höhere Kaufkraft bewirken. Zudem sollte im Einklang damit die Barrierefreiheit für diese Personengruppe im Shoppingprozess hergestellt werden. So würde eine im wahrsten Sinne des Wortes Soziale Marktwirtschaft entstehen.

Dr. Carsten Dethlefs

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